Ana's letzter Brief


 Ich brauche gar nicht zu fragen, ob du mich noch kennst. Natürlich kennst du mich noch. Ich bin bei dir gewesen, die ganzen letzten Jahre lang, und bin nie von deiner Seite gewichen.
 Was haben wir zwei nicht Alles miteinander durchgemacht.
 Du hast mir vertraut, ich weiß es. Es war ein harter Kampf, dich zu meiner Freundin zu machen, aber eines Tages hast du nachgegeben. Und wir zwei waren unzertrennlich.
 Du hast an mich geglaubt, so fest. Ich weiß, dass ich in all den Jahren deine beste Freundin war. Die einzige Person, der du dich überhaupt noch anvertraut hast.
 Wenn du geweint hast, war ich da, und habe dir durch dein immer dünner werdendes Haar gestrichen. Wenn du dachtest, du kannst nicht mehr, dann bin ich gekommen, habe dich an deinen dürren Armen gepackt und wieder aufgerichtet.
 Erinnerst du dich noch? Ich habe dir versprochen, dass du eines Tages fliegen können wirst. Und heute mein Mädchen, ist der Tag gekommen.
 Aber ich muss dir heute auch die Wahrheit sagen. Die Wahrheit, die ich dir nie sagen wollte, weil ich Angst hatte, dass du mich sonst im Stich lassen würdest. Ohne deinen Körper wäre ich nichts gewesen, verstehst du? Ich habe dich gebraucht, genauso, wie du mich gebraucht hast.
 In Wahrheit habe ich dich belogen. All die Jahre lang.
 Weißt du noch, als ich sagte, ich würde dir die Freiheit schenken? In Wahrheit habe ich dich eingesperrt.
 Weißt du noch, als du sagtest, du wärst so schrecklich alleine? Die Wahrheit ist- wenn ich nicht gewesen wäre, und dich nicht ständig davon abgehalten hätte, dich mit Freunden zu treffen, ins Kino zu gehen, mal ein Eis essen zu gehen, wenn ich dich nicht ständig davon abgehalten hätte, zu leben, dann wärst du nicht mehr lange alleine gewesen.
 Du hättest viele Freunde gefunden.
 Ich habe dich belogen, als ich sagte, ich wäre die einzige Person, die für dich da ist. In Wahrheit wollten dir so viele Menschen helfen. Aber ich habe es nicht zugelassen. Ich habe eine Mauer um dich herum gebaut, die keiner durchbrechen konnte.
 Und ja, ich habe dich belogen, als ich sagte, durch mich würdest du ein wunderschönes Mädchen werden. Die Wahrheit ist, dass du heute, mit deiner blassen, fahlen Haut und den dunklen Augenringen, mit den Knochen, die an deinen Seiten hervorstechen, und deinen Haaren, die nach und nach ausfallen, hässlicher aussiehst als je zuvor in deinem Leben.
 Die Wahrheit ist, dass ich wusste, du würdest ein hübsches Mädchen werden, wenn ich dich loslassen würde.
 Aber anstattdessen habe ich dich durch die Hölle geschickt.
 Ich habe dir gesagt, nach dieser Hölle würde eine wunderschöne Zeit kommen. Aber ich wusste von vorneherein, dass das nie eintreffen würde.
 Es tut mir so Leid, meine Freundin. So unendlich Leid.
 Vielleicht hätte ich dir schon vor Wochen sagen sollen, dass der Zeitpunkt kommen würde, an dem unsere Freundschaft ein Ende haben würde. Ich hätte es dir vielleicht schon vor Wochen sagen sollen, dann wäre es nie soweit gekommen.
 Du liegst jetzt hier, mein Mädchen, weißt du, dass du im Koma liegst? Dass deine Träume von bunten Schmetterlingen und federleichten Schwingen niemals in Erfüllung gehen werden?
 Weißt du, dass alles, was dich und deinen eingefallenen Körper am Leben hält, ein paar Maschinen sind?
 Ich muss es dir jetzt sagen. Aber sie werden die Maschinen heute abschalten.
 Es tut mir Leid. Ich wollte nie, dass es soweit kommt. Aber weißt du- ich kann einfach nicht alleine seien.
 Verzeih- und mach es gut.
 Deine Freundin
 Ana

1 Kommentar:

  1. Vor einigen Jahren schon gelesen und trotzdem berührt er mich immer noch... :(

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